17 05 17 — 17:17

Grenzkonstruktionen im Hinterhof der Globalisierung.
“Pss Pss Pss” – wie ein Katzenlockruf prägt die akustische Landschaft von Neve Shaanan Street. Die Straßenhändler_innen, in regelmäßigen Kreisen auf ihren Fahrrädern, werben um ihre Ware. Ein Gramm “Braun”, 100 Shekel. 25 Euro. Die Qualität ist niedrig. Hier kauft, wer keine andere Wahl hat.
Nur sieben Gehminuten von Neve Shaanan entfernt erstreckt sich der berühmte Rothschild Boulevard. Die berühmte Flaniermeile, eine hohe Anzahl an Gebäuden im Bauhaus Stil vereinend, erzählt das romantische Gründermythos einer Weißen Stadt am Meer, erbaut von zionistischen Einwanderern aus Europa. Die Bezeichnung „Weiße Stadt“ kam auf, weil für die Gebäudefassaden beinahe automatisch weißer Gips verwendet wurde.
Mit jedem Schritt in Richtung Süden verblasst die weiße Farbe, sie verläuft sich in ein unattraktives Grau-Beige. Eine unsichtbare Grenze trennt Neve Shaanan vom Rest der Welt, dem hippen Tel Aviv der Start-Ups und Hipster. Ins Kollektivgedächtnis der Stadt als schäbiger und krimineller Hinterhof Tel Avivs eintätowiert, wurden die Bewohner aus dem verarmten und marginalisierten Süd Tel Aviv von der lokalen Regierung jahrzehntelang systematisch ausgeblendet. Heutzutage haben sich das Viertel und dessen gleichnamige Handelsstraße in ein Etikett für Andersartigkeit und jüdischen Identitätsverlust verwandelt. Schwarze Hautfarbe dominiert das Straßenbild. Meist sind es Asylsuchende aus Eritrea oder dem Sudan, bisweilen Arbeitsmigrant_innen aus Westafrika, Asien oder Osteuropa. Aber: Wer nicht jüdisch ist, sollte nicht hier sein, zumindest nicht langfristig. Die „Eindringlinge“ seien keine Flüchtlinge, sondern Arbeitsmigrant_innen und sollten möglichst bald wieder zurück in ihre Länder, proklamieren zahlreiche Politiker und Massenmedien. Zwischen jüdischen Werten der Nächstenliebe und dem Gefühl einer Bedrohung der jüdischen Identität im Staat klafft eine Lücke. Das Andere macht Angst, ist illegal, gewalttätig, nimmt und verkauft Drogen. Das Andere ist die Schwarze Stadt. Ein Narrativ, das plakativer nicht sein könnte – Globalisierung als Idee ist sexy, Neve Shaanan ist es nicht.
Trotz räumlicher Enge ist Neve Schaanan Street ein sozial stark fragmentierter Raum, der unfreiwillig die Absorption von Israels zahlreichen Migrationsbewegungen widerspiegelt. Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Migrationsgruppen sind nicht immer selbstverständlich. Als effektives Instrument für die gegenseitige Abgrenzung vom “Anderen” dient die lokale Architektur: Während das Straßenbild auf den ersten Blick von kleinen Läden, ethnischen Lokalen und Textilgeschäften geprägt ist, floriert dahinter eine Unterwelt von (v.a. eritreischen und sudanesischen) Bars, Spielhöllen und Bordellen. Diese intime Parallelwelt ist durch enge Durchgänge zwischen den Läden zwar für die Öffentlichkeit begehbar, in Realität jedoch nur für Insider offen zugänglich.
Basierend auf Goffman’s Konzept von zwischenmenschlichen Interaktionen als Rollenspiel auf einer Theaterbühne (“Wir alle spielen Theater”) wird der Glaspalast in Wittenberg visuell zu einer Straßenkulisse umfunktioniert. Die Idee eines Theaterspiels in der Straße verkörpert das Bedürfnis der Akteur_innen, sich in Szene zu setzen und von einem Publikum gesehen zu werden, als Kontrast zu ihrer Unsichtbarkeit in der israelischen Öffentlichkeit. Auf dieser Bühne können Anwesende und Ladenbesitzer_innen in ihrer subjektiven Wahrnehmung auf die Frage “Was ist die Grenze zwischen Dir und Deinem Nachbarn” und/oder “Was ist die Grenze zwischen Neve Shaanan und der Welt?” beantworten. Der Annäherung an die Beantwortung der Projektfrage der GLASPALÄSTE “Wieso gibt es Grenzen?” geht so eine Forschung voraus, in der die Grenze zwischen sich selbst und dem “Anderen” erst gesucht werden muss. Charakteristisch ist die Abgetrenntheit Süd Tel Avivs vom Rest Israels sowie eine Zersplittertheit innerhalb des Straßenkosmos.
Gestalterisch thematisiert der Glaspalast auch die Fragezeichen der Unterwelt, die sich in den Zwischenräumen abspielt. So können Besucher_innen im Glaspalast ihren Kopf durch eine Fotowand strecken, die Neve Shaanan abbildet – treffen dort aber nur auf einen dunklen Zwischenraum, in dem eritreische Musik zu hören ist. Mit diesem konfrontiert, verirrt sich der/die teilnehmende Beobachter_in unfreiwillig in Interpretationen. Der „Blinde Fleck“, nach Goffman die „Hinterbühne“, auf der sich unmaskierte Interaktionen abspielen, bewahrt für die Forscher_innen und ihr Forschungsfeld den immerwährenden Charakter der Unvollständigkeit. Diese Verständnislücken können sowohl als Hindernis zum Verständnis der Realität wahrgenommen werden, gleichzeitig eröffnen sie aber neue Spielräume für Wahrnehmung von Interaktion. Die Antworten der Straßenakteur_innen zur persönlichen Konstruktion von Grenzen werden auf einer transparenten Wand am Glaspalast “angeschlagen” und mit Bildern der Stadtarchitektur kombiniert. Komplementär dazu fährt der Kubus in Wittenberg zum Lebensumfeld von Eritreern und anderen Flüchtlingen, wo denselben zwei Fragen gestellt, die Antworten verschriftlicht und ebenfalls am Kubus mit Bildern des jeweiligen Lebensumfeldes der Befragten kombiniert werden.