17 05 17 — 19:23

eine Epidemiologie.
Der Beitrag im 11. Glaskörper behandelt den Reformationsprozess entlang zweier Parallelen: Als biologischen und somit autonomen Vorgang einerseits und als Kunstform andererseits. „Epidemie“ ironisiert dabei alles Reißerisch–Dramatische in der Mythisierung des Reformator–Helden Martin Luther und versucht, die Besucher_innen in eine tiefere Beschäftigung mit dem Entfaltungsprozess der Reformation – in eine Epidemiologie – zu locken.
Das Kunstwerk wird als offenes Experiment aufgesetzt. Dessen Materialien werden einerseits digitale Abbildungen und andererseits Bakterien sein, wie sie, als Teil unseres Mikrobions, individuell verschieden auf unserer Haut ganz natürlich vorkommen. Fernab biologistischer Ideologien, gruseliger Szenarien und der üblichen Bioethikdiskussion soll dieses Experiment untenstehende Ausgangshypothesen und -fragen behandeln. Dabei wollen diese nicht nur naturwissenschaftlich–künstlerisch, sondern auch theologisch befassten Versuchsansätze die religiös motivierten oder historisch interessierten Besucher_innen sowie Passant_innen aus einem überwiegend säkularen Umfeld über ihre Abgrenzungen führen.
Ausgangspunkte:
- Im legendären Thesenanschlag, in der provozierenden Verbrennung der päpstlichen Bulle, sowie im musealen Festmachen eines epochalen Ereignisses liegt eine künstlerische Inszenierung, die heute mit aktuellen Kunsttechniken fortgeführt wird. In diesen Techniken differenzieren Dauerhaftigkeit (Virtuelle Welt) und vergängliche Dynamik (Bakterienkultur) ihre Charakteristika aus.
- Medien und Techniken sind jedoch nur einige der Voraussetzungen für eine kulturelle Evolution. Entscheidende Faktoren für Ihre Entfaltung sind die Inhalte, die Botschaften und Bedürfnisse. Diese suchen sich dann die gerade vorhandenen Inhaltsträger zu Ihrer Entfaltung. Nicht die neue Drucktechnik Gutenbergs entfaltet die Reformation, sondern es gibt etwas zu drucken, was die Menschen zutiefst bewegt. Bedürfnisse verbreiten sich in den neuen globalen sozialen Medien; die technischen Netzwerke sind viel mehr Antworten als primär formende Strukturen.
- Die Reformation erfasst die Menschen, indem sie die Sicht auf den Menschen, jedes Einzelnen auf sich selbst, neu definiert. Offenbar erfüllte sie damit eine tiefe Sehnsucht. Im unmittelbaren Kontakt oder in der Auseinandersetzung mit Gott, im direkten Spiegel der Ebenbildlichkeit, wird sich der individuelle Mensch befreiend seiner selbst bewusst als Maßstab seines eigenen, gerechtfertigten So-Seins. Er wird sich seiner selbst wert und entfaltet an sich selbst eine sinnliche und emanzipierende Gestaltung und Neudefinition. All das ist nichts Anderes als Kunst.
- Der entscheidende Impact der lutherschen Theologie liegt hierbei in der Freilegung dieses alten theologischen Menschen–Verständnisses durch die Eliminierung der als Medium für diesen Prozess als nicht mehr notwendig erachteten Autorität der Kirche. Hier werden die Grenzen für die Frage, wer ich bin, neu gezogen und meine Autonomie in der Frage, wer ich sein soll, wird erweitert.
- Dieser Autonomiegewinn versetzt den Menschen allerdings in die bohrende Ungewissheit, die es mit sich bringt, der höchsten Autorität (Gott/mir selbst) ganz allein und nur mit dem, was ich bin, und egal, was ich mache, gnadenvoll oder gnadenlos ausgesetzt zu sein. Die neue Autonomie fordert den Menschen, sich neu einzuordnen und sich der Richtigkeit dieser Einordnung zu vergewissern. Verschärft wird diese Einordnung durch die Perspektive einer Entscheidung darüber, wer dauerhaft bestehen kann: durch Glaube (Luther), analoges Handeln (Ablass) oder die Anzahl an Followern als Maß. Erträglich wird uns diese Exposition nur in der bewusst hergestellten Sichtbarkeit vor Gott oder vor den Menschen, die dafür sorgen soll, dass von uns, wenn schon nicht für die Ewigkeit, so wenigstens im Jetzt „etwas bleibt“, und wenn es ein Brief, ein Stück Papier ist. Dabei selektieren sich in einem Evolutionsprozess Formen der Dauerhaftigkeit oder Reproduktion heraus. Diese Vergewisserung hat ihren Preis: Monetär für den reellen Aufwand, den wir für unsere Gestaltung und Präsentation betreiben. Oder wir bezahlen mit der Preisgabe von uns selbst: inwieweit wir unsere Daten und uns selbst benutzen lassen. Indem wir uns erneut mehr oder weniger nackt einer Autorität ausliefern, die darüber entscheidet, ob wir dazugehören oder eben nicht; mit genauso ungewissem Ausgang wie mit einem gebührenpflichtigen Garantieschein auf ein Paradies in der Hand.