Warum die Globalisierung schon bei Luther anfängt…

von Joschka Köck

… und was Kolonialisierung damit zu tun hat

Im vorhergehenden Medienjournal zu Glaspaläste unterschied Judith Fischer zwischen Globalität als Zustand und Globalisierung als Prozess. Gehen wir davon aus, dass die Globalisierung noch nicht abgeschlossen ist, stellt sich die Frage, wann sie eigentlich los gegangen ist. Im gängigen Sprachgebrauch wird davon ausgegangen, dass sie ab den 1980er Jahren erst richtig los gegangen sei (sei es die Vorstellung einer sich angesichts des technologischen Fortschritts verkleinernden Welt oder einer deregulierten Weltordnung nach dem Ende der Sowjetunion). In der Wissenschaft besteht über den Beginn der Globalisierung Uneinigkeit (für eine detaillierte Diskussion: Nederveen Pieterse 2004: 15ff.).

In diesem Artikel werde ich anhand der so genannten dekolonialen Theorie argumentieren, dass der Beginn der Globalisierung sich ziemlich klar auf das Jahr 1492 (die „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus bzw. der Beginn des Kolonialismus) zurückverfolgen lässt und, dass das viel mit Luther zu tun hat. Mit dieser Datierung geht also eine ganz spezifische Deutung der Globalisierung als quasi ident mit der Kolonisierung einher.

Um das Jahr 1492 herum wird gemeinhin auch der Beginn der europäischen Neuzeit datiert. So fällt auch Luthers Thesenanschlag 1517 in eine Zeit, in der Europa von einem enormen Aufbruch gekennzeichnet ist. In einem eurozentrischen Denken (also auf Europa zentrierten Weltbild) wird ein universales Bild des Fortschritts bis ins Heute gemalt. Aber die europäische Moderne entsteht durch Gewalt. Koloniale Gewalt bedeutet(e) Genozide, aber auch das Ausrotten von Wissen. Damit die koloniale Ausrottung in den Amerikas gerechtfertigt werden konnte, wurden die Indigenen schlicht als „Menschen ohne Seele“ bezeichnet (vgl. Grosfoguel 2013). Und wenn ihnen doch eine Seele zugestanden wurde, so mussten sie mit (auch lutheranischer/evangelischer) Mission bzw. Erziehung zu besseren Menschen gemacht werden und das Wissen ihrer Kultur ging verloren. 1

Kolonialität und Modernität – der Zustand europäischer Moderne – sind daher zwei Seiten der selben Medaille, oder wie Walter Mignolo, einer der Vordenker dekolonialer Theorie es nennt, Kolonialität sei „the darker side of western modernity“ (Mignolo 2011). Luthers Reformation steht in besonderer Weise für die europäische universelle Fortschrittsgeschichte bzw. wird mit Kolumbus „Entdeckung“ zusammen mehrfach als Startpunkt europäischer (globaler) Moderne genannt, deren Schattenseite im offiziellen Diskurs oft unsichtbar gemacht wird.

Manuela Boatca fasst die zentralen Spielarten, die die Globalisierung/Kolonialisierung seit ihren Anfängen zu Luthers und Kolumbus Zeiten angenommen hat, zusammen: Die erste ist die oben genannte „christliche Mission“, die zweite die (als europäisch verstandene) Aufklärung: Europa sei das „Ende der Geschichte“ und müsse „die Anderen“ zivilisieren. Die dritte Spielart ist „Entwicklung“ und das Teilen der Menschheit in „Entwickelte“ und „Unter-Entwickelte“, das bedeutet Hilfe, um den westlichen Standard zu erreichen. Die „Globalisierung“ ist die vierte und letzte Spielart, in der die Welt in (westlich) demokratische und undemokratische Länder eingeteilt wird (Boatca 2015: 86, 115), wobei erstere verbreitet werden müsse. Globaler wird die Welt aber schon seit 1492 bzw. 1517! Alle diese Spielarten verschwinden nicht etwa, sondern bauen aufeinander auf und wirken miteinander jeweils noch heute weiter. So haben z.B. gerade evangelische/evangelikale Kirchen „noch“ heute massive Missionspräsenzen in „unterentwickelten“ Ländern.

Auch wer von dekolonialer Theorie noch nie etwas gehört hat, kann nachvollziehen, dass Globalisierung ein extrem ungleicher Prozess ist. Die Geographin Doreen Massey spricht in diesem Kontext von „relational spaces“ und „relational identities“ (Massey 2004: 5). Damit „wir“ im „Westen“ „global“ sein können und überhaupt weit weg fliegen können, müssen andere lokal sein und eben nicht in der Lage sein zu fliegen bzw. müssen darunter leiden. Dieses „global“ sein können, bzw. „lokal“ sein müssen, muss nicht Weltteile voneinander entfernt stattfinden, vielmehr gibt es auch in Ihrer Stadt, in Ihrem Wohnhaus, dieses Verhältnis (vgl. ebd.: 6ff.). Diese Ungleichheit ist, wie oben gezeigt, kein Zufall, nicht „einfach so“ behebbar, sondern eine unmittelbare Folge von heute noch (unter anderen Vorzeichen, s. Boatca ) fortgesetzter Kolonialisierung und Ausbeutung. Diesen Prozess der Kolonialisierung/Globalisierung nicht nur zu „reformieren“, sondern zu transformieren, dafür tragen wir alle die Verantwortung. Und mit „wir“ meine ich ausdrücklich nicht nur die Kolonisierten.

Zum Ende meines Artikels möchte ich Sie deshalb um persönliche Geschichten bitten: Wo haben Sie in Ihrem persönlichen Leben oder gar bei sich selbst nach der Lektüre dieses Artikels neue koloniale Beziehungen entdeckt? Wo sind Sie global? Wo lokal?

Wenn Sie gerade auf der Weltausstellung in Wittenberg sind, schreiben Sie Ihre Geschichte einfach auf einen Zettel und werfen ihn in den an dem PROGRAMM_PALAST angebrachten Briefkasten.

Wenn Sie diesen Text im Internet oder zu Hause lesen, freue ich mich sehr über Ihre Geschichten an joschka.koeck@tdu-wien.at, Rückmeldung in dem Fall garantiert! Vielen Dank!

  1. Dieser Prozess war und ist ein gewaltvoller und vor allem unfreiwilliger und so in konkreten sozialen Kämpfen verankert, die immer auch materiell begründet sind (vgl. Federici 2012 [2004]).
Quellen

Boatca, Manuela (2015): Orientalism vs. Occidentalism. The Decolonial Perspective. Global Inequalities Beyond Occidentalism. Farnham/Burlington: Ashgate. S. 81–116.

Federici, Silvia (2012 [2004]): Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien: mandelbaum.

Grosfoguel, Ramon (2013): The Structure of Knowledge in Westernized Universities. Epistemic Racism/Sexism and the Four Genocides/Epistemicides of the Long 16th Century. In: Human Architecture: The Journal of the Sociology of Self-Knowledge 1/Fall 2013. S. 73–90.

Massey, Doreen (2004): Geographies of responsibility. Geogr. Ann., 86B (1): 5–18.

Mignolo, Walter D. (2011): The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options. Durham/London: Duke University Press.

Nederveen Pieterse, Jan (2004): Globalization and Culture. Lanham: Rowman & Littlefield.

Über den Autor

Joschka Köck war Mitglied der Entwurfsgruppe zu GLASPALÄSTE, ist weißer Forscher, Aktivist und Künstler (Theatermacher). Als Alumni des Evangelischen Studienwerks Haus Villigst hat er mittlerweile einen Master in Internationale Entwicklung mit einer Arbeit zum politischen Theaterkollektiv „Zentrum für Politische Schönheit“ aus der hier vorgestellten dekolonialen Perspektive.

Michaela Rotsch

Bildende Künstlerin, transdisziplinäre und -kulturelle Forschung mit arabesken Organisationsstrukturen und syntopischen Werkstrukturen.

michaelarotsch.com

* Der Prototyp der Glaskuben stammt aus der künstlerischen Werkstruktur SYNTOPIAN VAGABOND, die hier mit dem transkulturellen Projektansatz von GLASPALÄSTE durch die gemeinsame Rahmenstruktur der Glaskuben verbunden wird. Dadurch wird die Grenze zwischen Bildender Kunst und anderen kulturellen Bereichen ausgelotet.

syntopianvagabond.net

Michaela Rotsch

Fine artist, transdisciplinary and transcultural research with arabesque organisational structures and syntopic work structures.

michaelarotsch.com

* The prototype of the glass cubes comes from the artistic work structure SYNTOPIAN VAGABOND, which is linked here to the transcultural approach of GLASPALÄSTE through the common structure of the glass cubes. Thus the boundary between contemporary art and other cultural areas is explored.

syntopianvagabond.net

Irmtraud Voglmayr

Soziologin und Medienwissenschaftlerin, Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Stadt- und Raumforschung, Medien, Gender und Klasse.

Irmtraud Voglmayr

Sociologist and media theorist, focussing on research and teaching: city and urban planning, media, gender and class.

Juliane Zellner

Juliane Zellner studierte Theaterwissenschaft (M.A.) in München, Urban Studies (MSc.) in London und promoviert derzeit an der Hafencity Universität im Fachbereich Kultur der Metropolen.

Juliane Zellner

Juliane Zellner holds a degree in Theatre Studies (M.A.) from LMU Munich and a degree in Urban Studies (MSc) from UCL London.

Currently she is a PhD Candidate in the Department of Metropolitan Culture at the HCU Hamburg.