Luther und die 96. These

von Norbert Burggraf

Hör nie auf, quer zu denken

Im Rahmen der „Wir stehen früher auf – Kampagne“ wurde an der Schlosskirche in Wittenberg die 96. These: „Höre nie auf, quer zu denken“, angeschlagen und damit das Wirken Luthers als Sachsen-Anhalt‘sche Erfolgsgeschichte geehrt (siehe Abbildung).

Hör nie auf, quer zu denken, denn QuerdenkerInnen sind klar und analytisch denkende Menschen, die Zusammenhänge erkennen und mitunter auch bewerten können. Die Frage: „Wieso gibt es Grenzen?“ fordert jede(n) QuerdenkerIn auf, zu hinterfragen „Warum werden Grenzen überschritten?“ und „Wann sind diese Grenzen überschritten?“

Die Reformation vor 500 Jahren war vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch und der Frage, wie der Mensch sich selbst verstehen sollte, geprägt. Martin Luther hatte nicht vor, die Welt zu verändern, als er 1517 seine Thesen gegen den Ablass formulierte, aber er hatte bewusst ein Problem angesprochen, das nicht allein das akademische Fachpublikum betraf. 01

Luther soll am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen haben. Die 96. blieb seltsamerweise unbekannt, doch als Conclusio zu den 95 Thesen könnte sie durchwegs lauten: „Hör nie auf, quer zu denken.“

Gutenbergs moderner Buchdruck, der Mitte des 15. Jahrhunderts erfunden wurde, und das Netzwerk der Herrscher sowie der Theologen machten die rasche und flächendeckende Verbreitung seiner Ausrufung und die Bekanntmachung seiner Thesen möglich. Hier kann nun hinterfragt werden, warum diese Verbreitung bei den ärmeren Bevölkerungsschichten derartigen Anklang fand. War es die Ablehnung von Privilegien der Reichen und Adeligen oder einfach nur die Zustimmung zu einer neuen Denkweise? Luther publizierte seine Thesen und konnte viele Menschen für seine Ideen gewinnen, da es ihm gelang, feinfühlig und in einer verständlichen neuen Form der deutschen Sprache die Bibel zu übersetzen, von der er überzeugt war, dass seine Sichtweise die richtige sei.

QuerdenkerInnen gab es viele, allerdings mit unterschiedlicher Überzeugung und die Folgen des Thesenanschlags Luthers waren Bauernkriege und Religionskriege, die in Kämpfen um Macht und Herrschaft während des Dreißigjährigen Krieges gipfelten und erst im Westfälischen Frieden fast 130 Jahre später ein vorläufiges Ende fanden.

Heute werden Inhalte und Botschaften in anderer Form verbreitet, sei es durch digitale Medien (Online-Plattformen, Weblogs), Social Media, Streaming Media, durch Rundfunk und Fernsehen oder durch Printmedien. Es lässt sich allerdings feststellen, dass die Medienberichterstattung oftmals sehr einseitig und tendenziös erfolgt. Gut und Böse werden schnell eruiert und wenig hinterfragt. Auf diese Weise wird die Gesellschaft manipuliert und bewusst in die Denkrichtung der Medien bzw. einer breiten Öffentlichkeit gelenkt. Darüber hinaus werden in den sozialen Medien die Meinungen im Sinne dieser so manipulierten Denkweisen noch verstärkt. In dieser Filterblase werden bestimmte Meinungen bekräftigt und keine anderen Standpunkte akzeptiert.

So erhalten wir von den Medien der westlichen Welt, welche von den USA angeführt wird, beispielsweise eine sehr einseitige Darstellung davon, wer, wann, wo, warum in Kriegsgebieten, welche Grenzen überschreitet. Für QuerdenkerInnen stellt sich damit die kritische Frage, welche Grenzen überschritten wurden – Ländergrenzen, religiöse02 oder moralische Grenzen?

Die primäre Fragestellung des Projekts GLASPALÄSTE lautet: „Wieso gibt es Grenzen?“ Es gibt sie, um ethnische, religiöse und kulturelle Gruppen zusammen zu halten oder andere auszugrenzen, wobei unterschiedliche Grenzen aufgezeigt wurden. Geografische Grenzen, wie etwa Ländergrenzen, Teilrepubliken und autonome Gebiete, alle wurden und werden aus unterschiedlichen machtpolitischen Gründen und Interessen überschritten. Eine der nachgestellten Fragestellungen lautet: „Warum werden Grenzen überschritten?“ Mit der Überschreitung der geografischen Grenzen werden auch gesellschaftliche und moralische Grenzen überschritten. Gesellschaftliche Manipulation glättet die moralischen Grenzen, um die geografischen Grenzen zu überwinden. Die zweite nachgestellte Frage, die sich gestellt hat, lautet: „Wann sind diese Grenzen überschritten?“ Geografische Grenzen gelten, solange sie politisch anerkannt werden, wenn dies nicht mehr der Fall ist, und die sogenannte Grenze überschritten wird, sehen es jene, die diese geografische Grenze anerkannt haben, als Grenzüberschreitung, andere hingegen sehen es als keine Überschreitung.03 Eine Spezifizierung, wann die Gesellschaft moralische Grenzen überschritten hat, gibt es nicht, solche Grenzen festzulegen, ist schwierig, da bei religiösen oder kulturellen Gruppen die moralischen und ethischen Grenzen oft anders definiert werden müssen. Die Gründe für ein Eingreifen zur Verfolgung der eigenen Interessen werden oft unter Vorspiegelung falscher Tatsachen verschleiert und lassen den Ruf nach Kriegseinsätzen rasch laut werden. Die Folge sind unzählige Todesopfer und Hinterbliebene, eine zerstörte Wirtschaft und Infrastruktur. Der Leitgedanke für QuerdenkerInnen, also der primäre Denkanstoß des Artikels ist, sich Gedanken zu machen, ob alles so ist, wie es tatsächlich scheint.

  1. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Herausgegeben vom Kirchenamt der EKD 2015: Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. 4. Auflage. Gütersloh, München. Gütersloher Verlagshaus. S. 106f.
  2. Der Krieg zwischen Iran und Irak wurde auch religiös angetrieben, denn im Iran leben größtenteils schiitische Muslim_innen  und im Irak sunnitische Muslim_innen mit jeweils unterschiedlichen religiösen Ansichten.
  3. Gründe dafür können Unabhängigkeitserklärungen von Teilrepubliken oder autonomen Gebieten (wie etwa der Kosovo) sein, die vom Ursprungsland nicht anerkannt wird, oder annektierte Gebiete usw.

Michaela Rotsch

Bildende Künstlerin, transdisziplinäre und -kulturelle Forschung mit arabesken Organisationsstrukturen und syntopischen Werkstrukturen.

michaelarotsch.com

* Der Prototyp der Glaskuben stammt aus der künstlerischen Werkstruktur SYNTOPIAN VAGABOND, die hier mit dem transkulturellen Projektansatz von GLASPALÄSTE durch die gemeinsame Rahmenstruktur der Glaskuben verbunden wird. Dadurch wird die Grenze zwischen Bildender Kunst und anderen kulturellen Bereichen ausgelotet.

syntopianvagabond.net

Michaela Rotsch

Fine artist, transdisciplinary and transcultural research with arabesque organisational structures and syntopic work structures.

michaelarotsch.com

* The prototype of the glass cubes comes from the artistic work structure SYNTOPIAN VAGABOND, which is linked here to the transcultural approach of GLASPALÄSTE through the common structure of the glass cubes. Thus the boundary between contemporary art and other cultural areas is explored.

syntopianvagabond.net

Irmtraud Voglmayr

Soziologin und Medienwissenschaftlerin, Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Stadt- und Raumforschung, Medien, Gender und Klasse.

Irmtraud Voglmayr

Sociologist and media theorist, focussing on research and teaching: city and urban planning, media, gender and class.

Juliane Zellner

Juliane Zellner studierte Theaterwissenschaft (M.A.) in München, Urban Studies (MSc.) in London und promoviert derzeit an der Hafencity Universität im Fachbereich Kultur der Metropolen.

Juliane Zellner

Juliane Zellner holds a degree in Theatre Studies (M.A.) from LMU Munich and a degree in Urban Studies (MSc) from UCL London.

Currently she is a PhD Candidate in the Department of Metropolitan Culture at the HCU Hamburg.