Funktionsweisen der Religion und Ökonomie

von Martin Zenker

I.

Die Frage nach sozialer Ungleichheit ist mit der Soziologie und der Geschichte dieser Disziplin so eng verbunden wie wohl keine andere Fragestellung. Ihr geht es darum, diese gesellschaftliche Gegebenheit als Produkt menschlichen Handelns und daraus resultierende Machtkonstellationen aufzuzeigen. Somit darf es nicht verwundern, wenn Soziologie auf Religion einen kritischen Blick wirft, wenn es um die Legitimation sozialer Ungleichheiten geht, die durch ein Ungleichgewicht der Ressourcenverteilung im ökonomischen System bedingt ist. So schreibt der Soziologe Bourdieu der Religion eine legitimierende Funktion bei gesellschaftlichen Ist-Zuständen zu.

„Genauer gesagt trägt die Religion zur (verschleierten) Durchsetzung der Prinzipien der Strukturierung der Wahrnehmung und des Denkens der Welt, insbesondere der Sozialwelt in dem Maße bei, als sie ein System von Praktiken und Vorstellungen aufdrängt, dessen objektiv auf einem Prinzip der politischen Teilung beruhende Struktur als natürlich- übernatürliche Struktur des Kosmos daherkommt.“ (Bourdieu 2000, 49)

Aber unbestritten besteht ein großer Teil der Arbeit der Kirchen und kirchlichen Organisationen darin, weniger privilegierte Mitglieder der Gesellschaft global zu unterstützen und dabei gesellschaftliche Ungleichheiten und Schieflagen zu mindern. Religion kann also auch ökonomisch bedingter Ungleichheit und damit den Ist-Zuständen etwas entgegensetzen.

An diese Ambivalenz anknüpfend soll in diesem Text eine soziologische Blickweise auf die Felder der Religion und der Ökonomie, auf Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten gerichtet werden.

II.

In „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ geht einer der Gründerväter der Soziologie, Max Weber, der Frage nach, auf welcher Grundlage sich der moderne Kapitalismus und das Wirtschaftssystem seit der industriellen Revolution ausprägen konnte. Insbesondere war dabei auffällig, dass sich der moderne Kapitalismus in Form von Handel und Produktion, in protestantisch geprägten Ländern und Gebieten besonders schnell entwickeln konnte. Die Ursache für die hohe Produktivität in Produktion und Handel führt Weber auf das protestantische Berufsethos zurück. Speziell der Begriff des Berufs lässt sich in der protestantischen Lehre, im Gegensatz zu anderen christlichen Lehren, weit zurückverfolgen und mit ihm kam der irdischen Arbeit eine neue Bedeutung zu. „ … die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhaltes, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen könne. Dies war es, was die Vorstellung von der religiösen Bedeutung der weltlichen Alltagsarbeit zur unvermeidlichen Folge hätte und den Berufsbegriff erzeugte.“ (Weber 1920, 39)

Berufsarbeit wird dabei zum Ausdruck der Nächstenliebe und Arbeitsteilung zum Gebot des ‚für den Anderen arbeiten‘. Doch der Berufsbegriff Luthers ist nach Weber ein traditionalistisch gebundener, welcher nicht mit dem Berufsbegriff im modernen Kapitalismus gleichgesetzt werden kann. Den Urheber für die Umorientierung von einer traditionalistischen Wirtschaftsgesinnung zu einer kapitalistischen, findet Weber in der Lehre des Calvinismus, der radikalsten Form des Protestantismus. Das frühe Aufkommen des Individualismus und die rationalisierte Weise der Lebensführung führt er auf die Formen der innerweltlichen Askese nach Calvin zurück. So wurden die großen Geschäftsleute der frühen Neuzeit durch Calvin geprägt. Konstante Motive des Handelns wurden gegen Affekte eingeprägt, was die Rationalisierung des Handelns bewirkte. Bei Calvin kommt explizit der irdischen Arbeit größte Bedeutung zu, wenn Weber schreibt: „ … dem ‚Nutzen‘ des Menschen- Geschlechtes zu dienen, lässt die Arbeit im Dienst dieses gesellschaftlichen Nutzens als Gottes Ruhm fördernd und also gottgewollt erkennen. (ebd., 66)

Das Handeln nach den Maßstäben des modernen Kapitalismus unterliegt bei Weber also nicht in erster Linie dem Kapital, sondern dem ‚Geist‘, durch den es bedingt ist. Er hat versucht, in seiner Arbeit Facetten dieses ‚Geistes‘ zu beschreiben und aufzuzeigen, dass dieser ‚Geist‘ durch protestantische Lehren geprägt wurde, welche die Entwicklung des Kapitalismus vorantreiben konnten. Es liegt ihm jedoch fern, damit zu behaupten, dass diese Form des Handelns von der protestantischen Lehre erfunden beziehungsweise herbeigeführt wurde. So gab es Formen des kapitalistischen Handels und Wuchers auch schon vor der Reformation. Den Rahmen und die Reichweite seiner getätigten Aussagen definiert er wie folgt:

„ … es soll nur festgestellt werden, ob und wieweit hier tatsächlich religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes Geistes über die Welt hin mitbeteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der kapitalistischen Kultur auf sie zurückgehen.“ (ebd., 51)

III.

Nach Bourdieu hat die Religion im sozialen Feld eine gewisse Funktion inne:

„Wenn es so etwas wie gesellschaftliche Funktionen der Religion gibt und die Religion infolgedessen der soziologischen Analyse zugänglich ist, so erwarten die Laien von ihr nicht allein Rechtfertigung für ihr Dasein, die sie der existentiellen Angst vor dem Ausgeliefertsein an den Zufall vor Verlassenheit oder gar dem biologischen Elend, der Krankheit, dem Leiden und dem Tod entreißen könnten, sondern auch gesellschaftliche Rechtfertigungen dafür, eine bestimmte Position innerhalb der Sozialstruktur einzunehmen.“ (Bourdieu 2000, 20)

Damit schließt sich Bourdieu auch den religionssoziologischen Untersuchungen von Max Weber an. Religion kommt insofern eine legitimierende Funktion zu, als auf symbolische Art das Sein, also gesellschaftliche Gegebenheiten, in ein Sein-Sollen überführt wird. Damit wird auch impliziert, dass sich Art und Inhalt von verbreiteten religiösen Botschaften und Lehren, am Rechtfertigungsbedarf für das Dasein von den jeweilig angesprochenen gesellschaftlichen Gruppierungen und Schichten orientieren und damit variieren. Kurz gesagt, unterscheiden sich die religiösen Interessen je nach negativ oder positiv privilegierter Schicht. Dabei gewinnen bei ersteren Verheißungen auf Erlösung vom Leiden an Bedeutung; bei zweiteren das Bewusstsein für die ‚Vollendung‘ der Lebensführung.

Wenn Bourdieu das religiöse Feld beschreibt, ist darin der zentrale Bestandteil die Kommunikation. Die Priesterschaft hat in der Gesellschaft quasi das Monopol auf die Verwaltung von Heiligtümern und die Art der Verwaltung erfolgt über Kommunikation. Das Entscheidende dabei ist, dass die Aussagen der ursprünglichen Prophetie, auf die sie sich dabei bezieht, eine unspezifischere Mehrdeutigkeit beinhaltet. Die Priesterschaft interpretiert diese auf die jeweilige Laienschaft bezogen.

„Professionelle Interpreten wie die Priester tragen zu einem Gutteil zu dieser permanenten Anpassungs- und Angleichungsarbeit bei, welche die Kommunikation zwischen religiöser Botschaft und den sich ständig erneuernden und von den ursprünglichen Adressaten in ihren religiösen Interessen und ihrer Weltsicht grundverschiedenen Rezipienten herzustellen ermöglicht“ (ebd., 35)

Diese Kommunikationsprozesse können als rational systematisiert gesehen werden. Der religiöse Habitus wird durch diese Systematisierung der Kommunikation erzeugt, indem die Ausführung der priesterlichen Tätigkeit veralltäglicht wird. Sie wird auf „austauschbare Kultusbeamte“ übertragen, die durch eine bestimmte Ausbildung mit einheitlichen beruflichen Qualifikationen und Instrumenten versehen sind. Der Religion und religiösen Botschaften ist damit bei Bourdieu nicht von ‚Natur‘ aus ein spezieller ‚Geist‘ inne, vielmehr sieht er sie als durch Gegegebenheiten im gesellschaftlichen Feld von Macht und Interessenslagen der Akteure geprägt und adaptiert.

IV.

Aus den hier skizzierten soziologischen Arbeiten zu Religion von Weber und Bourdieu wird im Zusammenhang mit Ökonomie ersichtlich, dass die beiden Felder nicht unabhängig voneinander sind. Mit Bourdieu lassen sich viele Gemeinsamkeiten zwischen religiösem und ökonomischem Feld aufzeigen – so etwa bei der Institutionalisierung der Kommunikation. Auch diese kann bei der Ökonomie als rational systematisiert begriffen werden. Etwa das Paradigma der Betriebswirtschaftslehre ist – etwas überspitzt formuliert – die Lehre des modernen kapitalistischen Geistes und wird über zielgerichtete Interpretationen von Schriften durch speziell ausgebildete ‚Kultusbeamte‘ unter die Laien gebracht.

Weber hat gezeigt, dass protestantische Lehren gewissermaßen schon das geistige Fundament und Anknüpfungspunkte für die kapitalistischen Produktionsweisen, -verhältnisse und Handel geschaffen haben. Beide Texte einigen sich darauf, dass Religion Ist-Zustände der Gesellschaft legitimieren kann. Jedoch unterscheiden sich beide Ansichten dadurch, dass Weber den Fokus auf den ‚Geist‘, der der Religionslehre scheinbar inne wohnt, legt, während Bourdieu kritisiert, dass Weber außer Acht lässt, dass dieser ‚Geist‘ erst durch gesellschaftliche Akteure wie Kultusbeamte geformt wird. Damit ist der ‚Geist‘ als Produkt bzw. Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse zu sehen und nicht als den religiösen Schriften immanentes Gut. Somit soll nach Bourdieu eine Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Realitäten und religiösen Lehren beschrieben werden. Anders gesagt, wird damit die konkrete Predigt zur Auslegungssache und der ‚Geist‘ kann eine sehr unterschiedliche Ausformung annehmen.

Dazu passt es auch, auf das eingangs angesprochene kirchliche Engagement in sozialen Bereichen zurückzukommen. Hier kann es einem auf den ersten Blick schwer fallen, diese Punkte der Legitimation des Ist-Zustandes nachzuvollziehen; legen doch kirchliche Organisationen häufig den Fokus auf karitative Zwecke und globale Unterstützung von weniger Privilegierten. Weiters hat sich gerade die protestantische Kirche immer wieder gegen den Wucher des Finanzkapitalismus ausgesprochen, und schon der Reformationsgedanke Luthers war gegen den Mammon gerichtet. So mag es auch nicht verwundern, dass zum 500-jährigen Reformationsjubiläum die 96. These des Querdenkens angeschlagen wird. Es bleibt jedoch zu hinterfragen, ob die Kirche in der Funktion, Ungleichheiten zu lindern, nicht erst den ökonomischen Rahmen, der diese verursacht, legitimiert.

V.

Auf der Grundlage dieser soziologischen Einblicke möchte ich Sie abschließend dazu anregen, darüber nachzudenken, welche Funktionen die Kirche heute erfüllt? Welche Erwartungen haben Sie an die Weltausstellung_Reformation herangetragen? Welche Bedeutung hat für Sie die 96. These des Querdenkens?

Quellen

Hansjörg Lein – „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon!“ Protestantische Gedanken zu Theologie und Ökonomie. 2005

Max Weber – Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. 1920

Pierre Bourdieu – Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens. 2000

Michaela Rotsch

Bildende Künstlerin, transdisziplinäre und -kulturelle Forschung mit arabesken Organisationsstrukturen und syntopischen Werkstrukturen.

michaelarotsch.com

* Der Prototyp der Glaskuben stammt aus der künstlerischen Werkstruktur SYNTOPIAN VAGABOND, die hier mit dem transkulturellen Projektansatz von GLASPALÄSTE durch die gemeinsame Rahmenstruktur der Glaskuben verbunden wird. Dadurch wird die Grenze zwischen Bildender Kunst und anderen kulturellen Bereichen ausgelotet.

syntopianvagabond.net

Michaela Rotsch

Fine artist, transdisciplinary and transcultural research with arabesque organisational structures and syntopic work structures.

michaelarotsch.com

* The prototype of the glass cubes comes from the artistic work structure SYNTOPIAN VAGABOND, which is linked here to the transcultural approach of GLASPALÄSTE through the common structure of the glass cubes. Thus the boundary between contemporary art and other cultural areas is explored.

syntopianvagabond.net

Irmtraud Voglmayr

Soziologin und Medienwissenschaftlerin, Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Stadt- und Raumforschung, Medien, Gender und Klasse.

Irmtraud Voglmayr

Sociologist and media theorist, focussing on research and teaching: city and urban planning, media, gender and class.

Juliane Zellner

Juliane Zellner studierte Theaterwissenschaft (M.A.) in München, Urban Studies (MSc.) in London und promoviert derzeit an der Hafencity Universität im Fachbereich Kultur der Metropolen.

Juliane Zellner

Juliane Zellner holds a degree in Theatre Studies (M.A.) from LMU Munich and a degree in Urban Studies (MSc) from UCL London.

Currently she is a PhD Candidate in the Department of Metropolitan Culture at the HCU Hamburg.