Aushandeln, Verbinden, Trennen.

Marina Klimchuk

Marina Klimchuk lives in southern Tel Aviv and works with Eritrean refugee children in a therapeutic day care centre

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28 06 17 — 17:54

Geschichten aus Neve Shaanan

 

Wann wird die Grenze zur Grenze und der Raum zum Raum im soziologischen Sinne? In Neve Shaanan überschneiden sich permanent grenzüberschreitende Praktiken mit grenzerhaltenden Gegenkräften. Grenzen werden ausgehandelt, verbunden und getrennt.

 

Ausschlaggebend für Grenzüberschreitungen ist die Kaufkraft. Saif aus Darfur verkauft Kleidung für alle und spielt amerikanische Musik für alle, damit alle sie verstehen können. Über Grenzen will er nicht sprechen. „Was meinst du mit Grenze?“, fragt er. Stattdessen erzählt er von Ramadan.

 

Gürtel mit eritreischen Flaggen sind fester Bestandteil in Saifs Sortiment. Der Kranz mit Olivenzweigen auf der Flagge soll die UN ehren. Das Grün steht für die Landwirtschaft in Eritrea, Blau für das Meer und Rot für das Blut, das im Freiheitskampf gegen Äthiopien geflossen ist.

Post aus Asmara

 

Mahari aus Eritrea verkauft Kleidung für alle Anlässe. „Ich habe den Laden vor einem Jahr eröffnet und schreibe immer noch rote Zahlen. Als Feiertage waren, ging es etwas besser, aber jetzt mit Ramadan wieder schlechter, es wird kaum gekauft.“
 

„Ein Großteil der Kleidung ist für Feiertage, Hochzeit, Taufe und Kirchengang. Jede eritreische Frau muss zu solchen Anlässen ein traditionelles Tilfi Kleid tragen, immer weiß mit Muster. Wenn das Muster in Kreuzform genäht ist, ist das für Christinnen. Jüdische Äthiopinnen1 würden das nicht kaufen. Die farbigen Kleider sind Shifon Kleider, das ist für den Alltag. Die bestelle ich hier in Tel Aviv. Der Rest wird aus Addis Abeba (Äthiopien) oder Asmara (Eritrea) geliefert. Die Lieferungszeit nach Tel Aviv ist etwa zwei Wochen. Eritreische und äthiopische Kultur sind sehr ähnlich, Kleider, Essen, Musik. Die Grenzen zwischen den beiden Ländern waren lange Zeit unklar. Selbst jetzt. Fast die Hälfte aller äthiopischen Jüd_innen hier in Israel sprechen Tigrinya, unsere Sprache. Sie kaufen auch bei mir. Auch philippinische Frauen. Alle. “

 

“In Eritrea laufen alle so herum, ständig. Meine Mutter hat nie was anderes an”.


Samhar, ursprünglich aus Asmara und seit einigen Jahren in Tel Aviv, besitzt zwei Tilfi Kleider für besondere Anlässe. “May you fill your stomach with vegetables, but do not put bad clothes on yourself so that your enemy shall not be happy”, so ein altes Sprichwort in Tigrinya. Die Tendenz, selbst in Zeiten der Not die eigenen Traditionen zu pflegen, ist charakteristisch für Tausende eritreische Asylsuchende in Israel.

 

“Geschäft kennt keine Hautfarbe”

 

Ursprünglich war die Straße Neve Shaanan dominiert von persisch-jüdischen Schuhmacher_innen. Heutzutage haben die meisten von ihnen ihre Läden geschlossen, geblieben sind die wenigsten. Einige verkaufen jetzt Kleidung.
 

Moshe, alteingesessener Ladenbesitzer in Neve Shaanan, erzählt: „30 Jahre lang haben wir unseren Laden hier. Wir sind aus dem Iran eingewandert und haben im selben Jahr hier eröffnet. Damals kannte jeder in Israel diese Straße. Persisch-jüdische Schuhmacher_innen waren berühmt. 90 Prozent der Ladenbesitzer_innen waren Perser_innen, der Rest Iraker_innen und Georgier_innen. Als in den 1990er Jahren der neue Busbahnhof gebaut wurde, sind die meisten mit ihren Geschäften woanders hingezogen, wo man mehr Geld machen kann. Wir sind geblieben.“
 

Sein Geschäftspartner Chaim stimmt zu. „Dann, während der zweiten Intifada, begannen die Terrorattacken hier: Fünf Anschläge. Das gab uns hier den Rest, niemand wollte mehr hierher kommen. Stattdessen rollten Generationen von Neueinwander_innen ein: Rumän_innen, Moldavier_innen, Türk_innen, Philippiner_innen. Jetzt sind es Afrikaner_innen. Als die anfangs hergekommen sind, ging es bei uns aufwärts. Endlich kaufte wieder jemand Schuhe, schließlich lebten sie hier. Aber später haben sie ihre eigenen Geschäfte für ihre Leute eröffnet, deshalb kaufen sie jetzt weniger bei uns. Aber für das Business spielt es keine Rolle, wo Kunden herkommen. Bei uns geht es ums Geschäft und Geschäft kennt keine Ideologie und keine Hautfarbe.“

 

Die Frage nach der Nicht-Zugehörigkeit

 

Nach Simmel ist eine Grenze zu erkennen, wenn aus einer geographischen Linie ein “seelisches, näher: soziologisches Geschehen” wird. Er bezeichnet Grenze nicht als eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt (1908; 1992: 699). Sowohl der Grenze zwischen dem hippen Tel Aviv und Neve Shaanan als auch den territorialen Grenzen, die einzelne ethnische Gruppierungen innerhalb Neve Shaanans aufbauen, gehen soziologische Tatsachen voraus: eine Trennung von Privileg und Armut, von innen und außen, von Weiß und Schwarz, von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Ethnische Identität wird erst durch Differenz möglich. Diese Differenz wird von sozialen Akteuren wie Saif, Mahari, Samhar, Moshe und Chaim unterschiedlich performiert, interpretiert und reproduziert. Neve Shaanan wird zu einem experimentellen Raum von Grenzüberschreitungen und grenzanhaltenden Gegenkräften zugleich.

 

1 In Israel leben ca. 140 000 jüdische Äthiop_innen, von denen die meisten 1984 und 1991 mit Unterstützung der israelischen Regierung eingewandert sind.

Quellen:

Simmel, Georg: (1908;1992) Der Raum und die örtliche Ordnung der Gesellschaft. Bd. XL Simmel-Gesamtausgabe. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Marina Klimchuk

Marina Klimchuk lives in southern Tel Aviv and works with Eritrean refugee children in a therapeutic day care centre. Born in Ukraine, she grew up in Germany and studied sociology in Munich as well as International Migration in Tel Aviv.

Her interests are hybrid Identities and the social construction of bounderies in urban space. Her Master thesis, „Living in a kaleidoscope. An ethnography of ethnic boundaries and crossing points in south Tel Aviv“ was published in 2015 by the BWV (Berliner Wissenschafts-Verlag).

Michaela Rotsch

Bildende Künstlerin, transdisziplinäre und -kulturelle Forschung mit arabesken Organisationsstrukturen und syntopischen Werkstrukturen.

michaelarotsch.com

* Der Prototyp der Glaskuben stammt aus der künstlerischen Werkstruktur SYNTOPIAN VAGABOND, die hier mit dem transkulturellen Projektansatz von GLASPALÄSTE durch die gemeinsame Rahmenstruktur der Glaskuben verbunden wird. Dadurch wird die Grenze zwischen Bildender Kunst und anderen kulturellen Bereichen ausgelotet.

syntopianvagabond.net

Michaela Rotsch

Fine artist, transdisciplinary and transcultural research with arabesque organisational structures and syntopic work structures.

michaelarotsch.com

* The prototype of the glass cubes comes from the artistic work structure SYNTOPIAN VAGABOND, which is linked here to the transcultural approach of GLASPALÄSTE through the common structure of the glass cubes. Thus the boundary between contemporary art and other cultural areas is explored.

syntopianvagabond.net

Irmtraud Voglmayr

Soziologin und Medienwissenschaftlerin, Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Stadt- und Raumforschung, Medien, Gender und Klasse.

Irmtraud Voglmayr

Sociologist and media theorist, focussing on research and teaching: city and urban planning, media, gender and class.

Juliane Zellner

Juliane Zellner studierte Theaterwissenschaft (M.A.) in München, Urban Studies (MSc.) in London und promoviert derzeit an der Hafencity Universität im Fachbereich Kultur der Metropolen.

Juliane Zellner

Juliane Zellner holds a degree in Theatre Studies (M.A.) from LMU Munich and a degree in Urban Studies (MSc) from UCL London.

Currently she is a PhD Candidate in the Department of Metropolitan Culture at the HCU Hamburg.