Auf dem Weltmarkt der Sinnentwürfe

Marina Klimchuk

Marina Klimchuk lebt in Süd Tel Aviv und arbeitet in einem therapeutischen Tageszentrum mit eritreischen Flüchtlingskindern.

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08 06 17 — 22:35

Wem gehört Neve Shaanan?

 

Auch hier, wo Unstetigkeit und flüchtige Übergänge den Alltag kennzeichnen, hat sich eine Welt von Selbstverständlichkeiten und Routine eingeschlichen. Ihr Beharrungsvermögen scheint Sicherheit zu versprechen, an einem Ort, wo Sicherheit alles andere als gewährleistet ist.

 

Die Straße ist gefährlich, so viele Junkies. Jede Sekunde muss ich aufpassen, wer meinen Laden betritt und ob nichts gestohlen wird. Aber mein Laden ist mein Zuhause und die Leute in Neve Shaanan sind meine Familie. Jeden Morgen komme ich um 8 in der Früh und gehe um 9 abends nach Hause, sechs Tage die Woche. Alle kaufen bei mir ein und alle mögen mich, selbst die Junkies. Dieser Typ hier, er ist Israeli, Taxifahrer. Er lädt immer sein Telefon bei mir im Laden auf. Wenn ich auf die Toilette muss, passt jemand auf den Laden auf. Es ist selbstverständlich.

Nasser aus Darfur, seit 10 Jahren in Israel

 

Es bildet sich ein Spannungsfeld im Straßenkosmos: zwischen den vertrauten Strukturen der Lebenswelt im Alltag der Straße, der von den Ladenbesitzer_innen intersubjektiv zwar als problematisch (Drogen/Diebe/niedriger Lebensstandard) aber gleichzeitig heimisch (alle kennen sich/routinierter Alltag) wahrgenommen wird. Alltag bzw. Lebenswelt sind einerseits als kulturell geformte Sinnwelt und andererseits als Basis jedes Wahrnehmens und Verstehens einer sozio-kulturell gegebenen Umwelt und somit auch der darin entwickelten Wissensbestände überhaupt zu verstehen (vgl. Schütz; Luckmann 1988). Gleichzeitig drängt sich permanent die Grenze zum “Fremden” auf: die fremde Hautfarbe, Kultur, Sprache, die anderen “Manieren”, der soziale Status.  Vor allem viele der alteingesessenen jüdischen Einwanderer_innen fühlen sich überrollt von der dominanten Präsenz der afrikanischen Asylsuchenden.

 

Sie sind N*ger1 und wir sind Israelis. Es ist eine andere Liga, eine andere Mentalität. Sie reichen nicht an uns ran. Ich betreibe mein Café in dieser Straße seit 19 Jahren und Neve Shaanan wurde an sie weggegeben, von der Regierung. Wir mussten hierher umziehen vom anderen Ende der Straße, weil dort nur N*ger waren und keine Gäste mehr zu uns gekommen sind. Aber ich bediene jeden. Wenn Schwarze herkommen und etwas trinken wollen, bediene ich sie, alles andere wäre ja Diskriminierung, oder? Wir müssen sie wie Menschen behandeln.

Ob ich mich hier umso mehr jüdisch fühle? Ich fühle mich immer jüdisch, weil ich jüdisch bin. Und Israeli. Früher waren hier nur rumänische Gastarbeiter und Israelis. Bis diese Leute hergekommen sind. Für mich ist es nicht einfach, ständig an einem Ort mit so niedrigen Leuten zu sein.  Damals in St. Petersburg war ich Geschichtslehrerin und habe in einem Museum gearbeitet.

Tamara, jüdische Einwanderin aus Rumänien/Russland

 

Ähnlich wie Tamara beschreibt jeder weitere soziale Akteur ein anderes Neve Shaanan, das doch immer dasselbe ist. Die Straße als sozialer Raum bietet Anschluss für unzählige Sinnkonstruktionen und Deutungsmuster. Nach Kühne sind Orte in die intentionalen Strukturen aller menschlichen Erfahrungen und des Bewusstseins eingebunden.(…) Dabei geht es um ein ständiges Aushandeln von Abgrenzung und Randgebieten. Neve Shaanan ist somit als Ausdruck von Macht, von Dominanz und Minoritäten, von Glaubenssätzen und den darin verankerten Kulturen zu verstehen (vgl. Kühne in: Kistemann, Gebhard 2016, S. 26). Die Frage nach Dominanz und Macht, wer Macht hat und wem sie zusteht, bleibt willkürlich interpretierbar.

Ich kann die Straße nicht ausstehen, nichts davon, aber habe ich eine Wahl? Nein. Schau raus! Drogen, Diebe, Kriminalität. Aber dieser Laden ist alles, was ich habe. Die Leute hier sind wie Familie, aber was ändert das?

Die Israelis mögen uns nicht, ich weiß nicht, ob es wegen der Hautfarbe ist. Als ich vor fünf Jahren herkam, alleine, war ich 18. Vor zwei Jahren habe ich geheiratet und jetzt haben mein Mann und ich diesen Laden. Alles, was meins ist, muss ich mir hart erarbeiten. Und die ganze Zeit meiner Familie Geld schicken. Meine Eltern sind in Eritrea, mein Bruder und meine Schwester sind nach Libyen und haben von da aus versucht, nach Europa zu gelangen. Jetzt ist er in Holland und meine Schwester wurde erwischt und zurück nach Eritrea deportiert und verhaftet.

Meine Tochter ist ein Jahr alt. Ich kann sie nicht hierher mitnehmen, weil überall benutzte Spritzen auf dem Boden rumliegen. Da ist dieses Geräusch „Pss pss“ und dann sehe ich immer, wie sie heimlich etwas rüberreichen. Keine Ahnung, was dieses ganze Zeug ist. Viele Israelis kommen her und kaufen es. Ich sehe immer einen ganz reichen Typen in einem teuren Wagen, der hier einkauft.

Ali, Asylsuchende aus Eritrea

 

Die Narrative fügen sich zu einem Puzzle von Lebensgeschichten, Zufälligkeiten und Antagonismen zusammen. Scheinbar versehentlich ist zusammengeworfen, was nicht zusammengehört. Eine normative Forderung nach mehr Homogenität, die implizit in den Erzählungen durchklingt, bleibt fiktive Wunschvorstellung. Diese radikale Perspektivendifferenz auf dem Weltmarkt der Sinnentwürfe in Neve Shaanan generiert konstant Vielfalt, neue Bündnisse, überraschende Überschneidungen sowie gleichzeitiig dazu Konkurrenz und Kampf zwischen den symbolischen Formen (meist ethnischen Gruppierungen), die sich über solche Formen interpretieren bzw. ein-und ausgrenzen. Der entscheidende Moment für Überschneidungen im Altag ist die Kaufkraft: Sei es Schuhe oder Bier, bei wem man kauft und welche Hautfarbe der Kunde oder die Kundin hat, ist zweitrangig, solange gezahlt wird. Alltägliche „Kaufrituale“ erzeugen eine gemeinsame Welt unausgesprochener Übereinstimmung, die sich in schnellen und störungsfreien Interaktionen reproduziert und als unreflektierte Selbstverständlichkeit in die Routine eingebunden wird (vgl. Soeffner in: Jaeger, Friedrich 2016, S.399ff.).

 

 

1 Das Gespräch mit Tamara wurde auf Russisch geführt. Im russischen Sprachgebrauch ist es kein Tabu, das Wort „N*ger“ für schwarze Menschen zu verwenden. Oftmals, wenn auch nicht immer, ist der Ausdruck nicht im abwertenden Sinne, sondern deskriptiv zu verstehen.

 

Quellen

 

Alfred Schütz und Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Band 1, 3. Auflage. Frankfurt 1988.

Gebhard, Ulrich und Thomas Kistemann, eds. Landschaft, Identität und Gesundheit: Zum Konzept der Therapeutischen Landschaften. Springer-Verlag, 2016.

Jaeger, Friedrich, et al., eds. Handbuch der Kulturwissenschaften: Sonderausgabe in 3 Bänden. Springer-Verlag, 2016.

Marina Klimchuk

Marina Klimchuk lebt in Süd Tel Aviv und arbeitet in einem therapeutischen Tageszentrum mit eritreischen Flüchtlingskindern. In der Ukraine geboren und in Deutschland aufgewachsen, studierte sie Soziologie in München sowie Internationale Migration in Tel Aviv.

Ihre Interessenschwerpunkte sind Hybride Identitäten und die soziale Konstruktion von Grenzen in urbanen Räumen. Ihre Masterarbeit „Living in a kaleidoscope. An ethnography of ethnic boundaries and crossing points in south Tel Aviv“ ist 2015 im Berliner Wissenschaftsverlag erschienen.

Michaela Rotsch

Bildende Künstlerin, transdisziplinäre und -kulturelle Forschung mit arabesken Organisationsstrukturen und syntopischen Werkstrukturen.

michaelarotsch.com

* Der Prototyp der Glaskuben stammt aus der künstlerischen Werkstruktur SYNTOPIAN VAGABOND, die hier mit dem transkulturellen Projektansatz von GLASPALÄSTE durch die gemeinsame Rahmenstruktur der Glaskuben verbunden wird. Dadurch wird die Grenze zwischen Bildender Kunst und anderen kulturellen Bereichen ausgelotet.

syntopianvagabond.net

Michaela Rotsch

Fine artist, transdisciplinary and transcultural research with arabesque organisational structures and syntopic work structures.

michaelarotsch.com

* The prototype of the glass cubes comes from the artistic work structure SYNTOPIAN VAGABOND, which is linked here to the transcultural approach of GLASPALÄSTE through the common structure of the glass cubes. Thus the boundary between contemporary art and other cultural areas is explored.

syntopianvagabond.net

Irmtraud Voglmayr

Soziologin und Medienwissenschaftlerin, Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Stadt- und Raumforschung, Medien, Gender und Klasse.

Irmtraud Voglmayr

Sociologist and media theorist, focussing on research and teaching: city and urban planning, media, gender and class.

Juliane Zellner

Juliane Zellner studierte Theaterwissenschaft (M.A.) in München, Urban Studies (MSc.) in London und promoviert derzeit an der Hafencity Universität im Fachbereich Kultur der Metropolen.

Juliane Zellner

Juliane Zellner holds a degree in Theatre Studies (M.A.) from LMU Munich and a degree in Urban Studies (MSc) from UCL London.

Currently she is a PhD Candidate in the Department of Metropolitan Culture at the HCU Hamburg.