Die Grenze als Tür — die Tür als Chance

von Judith Fischer

Journal-Artikel aus soziologischer Sicht

Im Sinne der 96. These Luthers gilt es, Bestehendes zu hinterfragen, nicht alles für selbstverständlich hinzunehmen. Als Metapher für verschiedenste Möglichkeiten bzw. die Verfügbarkeit von Entscheidungsmacht steht die Tür (Hengartner, Moser 2006). Türen können für eine Vielzahl an Bedeutungen stehen. Zum einen dienen sie dazu, zwei Räume oder Welten voneinander zu trennen, jedoch nicht für immer, da sie vor allem den Nutzen haben, geöffnet oder geschlossen zu werden. Ob eine Tür geöffnet wird oder doch verschlossen bleibt, ist eine Sache der Entscheidung. Wer aber ist befähigt dazu, Entscheidungen zu treffen? Mit jeder Entscheidung geht auch immer Verantwortung einher, welche kaum oder eher niemals abzuschütteln ist. Gerade in Zeiten der Globalität, wird die Frage nach der Verantwortung noch dringlicher. Wenn der Handel zwischen Volkswirtschaften steigt, Technologie, Arbeitskräfte, Wissen, Investitionen und Kapital Grenzen überschreiten, dann kann von einer globalisierten Gesellschaft gesprochen werden (Weede 2011), dann können Verantwortlichkeiten verschwimmen. Mit der Türöffnung geht also Verantwortung einher. Im Sinne der ökonomisch geprägten Globalität wird sie nur dann in Richtung bestimmter Länder geöffnet, wenn Profit- bzw. Expansionschancen gewittert werden. So entstehen globale Produktions- und Konsumptionsketten. Wie aber können Länder dem Import- bzw. Exportwahn entgegen stehen? Welche Möglichkeiten sind gegeben, wenn sich die westliche Welt durch die Türe drängt und sich ein bestimmter Lebensstandard rasant verbreitet? Wie sichern sie ihre Ressourcen, die ohnehin knapp zu sein scheinen, wenn die Grenzen ihres Landes dem globalisierten Markt kaum standhalten können, Türen aufgebrochen werden? Und vor allem: Welche Ressourcen sind für welche Menschen tatsächlich wert- bzw. sinnvoll?

Hier besteht die Ambition, auf Fragen und Themen rund um Kolonialisierung, Globalisierung, Grenzen, Verantwortung, Ressourcenknappheit und Marketing aufmerksam zu machen, den einen oder anderen Denkanstoß zu liefern. Dabei begleitet uns kein roter Faden, sondern: Die Tür als Metapher der Grenze.

Globalität, Lokalität und Re-Kolonialisierung

Die Globalisierung löst trotz ihrer weltweiten Auswirkung die Lokalität nicht ab. Sie beziehen sich aufeinander, stehen nicht wirklich im Gegensatz, sondern in einem Netzwerk, welches die Grenzen aufzulösen scheint. Ökonomisch betrachtet ist Globalisierung eine Mischung aus Ungleichzeitigkeiten; was bedeuten soll, dass sich verschiedene Länder, aber auch Regionen zum gleichen Zeitpunkt in einem Stadion von Entwicklung einerseits oder Unterentwicklung andererseits befinden können (Bornschier 2002). Im Gegensatz zu Globalität, welche einen Zustand beschreibt, meint Globalisierung einen Prozess. Etwas setzt etwas in Gang. Außerdem muss Globalisierung immer in einem historischen und geografischen Kontext von Kolonialisierung und Ausbeutung gesehen werden, um einer Erklärung des Phänomens gerecht zu werden (Randeria/Eckert 2009: 9ff). Die sich daraus ergebenden Folgen sind heute noch spürbar. Eine Existenz der Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion beispielsweise verdeutlicht diese Behauptung. Im Globalisierungsprozess wirken simultan verlaufende Transformationen, die sowohl integrierende als auch peripherisierende Ausmaße haben können. Anders, aber vielleicht nicht einfacher, gesagt: Es besteht eine Gleichzeitigkeit von globaler Vergesellschaftung und lokaler Vergemeinschaftung (Kolland 2010). Nimmt man z. B. Wittenberger Produkte, wie die Luther Tomate oder Wikana Kekse, so ist anzunehmen, dass sie gewissermaßen zu einer lokalen Identität der „Reformstadt“ Wittenberg gehören: Lokale Vergemeinschaftung im Keks-Kiosk, lokale Vergemeinschaftung bei den Betriebsverkäufen der Luther Tomate GmbH. Ihre globale Verbreitung durch den weltweiten Export integriert sie in ein viel weitläufigeres Netzwerk an Konsumgütern.

Stichwort Kolonialisierung; Auch die Luther Tomate hatte ihren Anfang wie alle anderen Tomaten in den Anden Südamerikas. Schon im 16. Jahrhundert wurde für das/die „Tomatl“ (so nannten sie die Azteken) als Kolonialware Tore und Pforten geöffnet. Über spanische Eroberungszüge in Südamerika gelang die Pflanze, deren Blätter auffallend gelb waren, und die deshalb auf sich aufmerksam machte, gemeinsam mit Mais, Süßkartoffeln, Erdäpfeln und Chilli nach Europa (vgl. eufic). Den Nutzen oder besser den Geschmack kannte damals nur die einheimische Bevölkerung (vgl. Planet Wissen). Im weiteren Verlauf „eroberte“ die Tomate den weltweiten Handel und ist bis heute in vielen (kulinarischen) Kulturen verbreitet.

Markt

Die Luther Tomate ist nicht nur ein Produkt aus Wittenberg, sondern vor allem ein Branding, Marketing und ein geschützter Marktname (mit 300 Euro wurde dies 2009 festgelegt). Tomaten in anderen Regionen heißen einfach Tomaten und tragen wenn, dann meist Sortennamen. Warum also wurden sie ausgerechnet nach einem kritisch zu betrachtenden „Reformator“ getauft? Wie die Mitteldeutsche Zeitung schreibt, sind die niederländischen Investoren der Luther Tomate GmbH interessanter Weise nicht stark mit der Geschichte Wittenbergs verbunden, geschweige denn in der protestantischen Glaubensgemeinschaft beheimatet und damit auch nicht erfreut über die Namensgebung, die vom deutschen Geschäftsführer, Rehhan, initiiert wurde: „Die günstigste, aber wohl wichtigste Investition, nämlich 300 Euro, tätigte Rehhan aus der eigenen Tasche. Er ließ in München den Marken-Namen ‚Luther-Tomate‘ schützen. Viel schwieriger aber war die Überzeugungsarbeit, die er bei seinen niederländischen Kollegen leisten musste. ‚Die haben als Katholiken nicht verstanden, welche Bedeutung Luther in unserer Region hat‘, sagt Rehhan und lacht.“ (Thomé, Mitteldeutsche Zeitung 02.10.2015). Jene Idee, die Abwärme des Stickstoffkraftwerks (Stickstoffwerke Piesteritz) für die Gewächshäuser zu nutzen, stammt im Übrigen aus dem Jahr 1975 von der Gartenbaugenossenschaft „Elbaue Gemüse“. Ihr war nicht die Möglichkeit gegeben, sich neben dem Kraftwerk anzusiedeln, da dessen eventueller Ausbau im Raum stand (ebd.). Nun wieder die Frage: Warum werden für manche Akteur_innen Türen geöffnet und für andere wiederum nicht?

Verantwortung

Jede Tür lässt sich öffnen, durch jede Tür können Menschen aus- und eingehen. Die Gegenwart ist vor allem in der westlichen Gesellschaft von hoher und vor allem individueller Mobilität geprägt. Dennoch scheint der globale Markt nationalräumliche Grenzen mit einer höheren Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit zu überschreiten als es Menschen können. Die Frage nach dem „Warum“ wäre an dieser Stelle fast schon banal. Interessanter zu hinterfragen wäre, aus welcher Motivation heraus Konzerne und Betriebe in bestimmte Länder exportieren und warum diese Exportgüter auf den nationalen Markt kommen? Und: Wer übernimmt die Verantwortung für lokale Folgen, faire Produktions- und Arbeitsverhältnisse in Export- sowie Zielländern? Verantwortung wird gerne weitergegeben, eine völlige Auslagerung ist jedoch undenkbar. Modernen Gesellschaften stehen im Gegensatz zu vormodernen weder Dämonen noch Gottheiten zur Externalisierung von Verantwortung zur Verfügung. Vielmehr sind bestimmte Handlungen bestimmten Akteur_innen zurechenbar (Schroer 2009). Verantwortung ist jenen zuzuschreiben, die auch eine gewisse Entscheidungsmacht innehaben, damit kann sie allgemein als ein relationales Verhältnis verstanden werden (Sombetzki 2014). Verantwortung ist außerdem grenzenlos, geht über Länder, Kontinente, Religion oder Generationen hinaus. Genau so wie eine Generation verantwortlich für die Gerechtigkeit der nachkommenden ist (Tremmel 2003), so sind es auch Konzerne, die beschließen Produktion auszulagern, bestimmte Länder oder Bevölkerungsschichten zu fokussieren. Besonders in Zeiten des globalen Marktes scheint es so, als würden Verantwortlichkeiten lediglich in andere Länder, auf andere Akteur_innen verschoben. Oder etwa wird die Tür in Richtung eines Landes aufgrund von Machtverhältnissen, nicht aus Verantwortungsgefühl, geöffnet.

„Target the poor“ etwa ist nicht ein Sozial-, sondern ein Geschäftsmodell, bei welchem Dritte-Welt- und Schwellenländer fokussiert werden. Die Idee dahinter liegt darin, besonders billige Produkte auf den Markt dieser Zielländer anzubieten, da die Kaufkraft wiederum steigt (Gassmann et al. 2016). Soll heißen: Arme Menschen konsumieren Produkte, die ihrem Einkommen angepasst werden. In den 1990er Jahren gelang einer indischen Tochterfirma von Unilever, einem auch in Wittenberg angesiedelten Konzern, mit diesem Konzept erstmals ein Erfolg. Das Erfolgsprodukt: Ein Waschmittel für die arme Bevölkerung Indiens, die ihre Wäsche in Flüssen reinigen muss. Wie umweltverträglich dieses Waschmittel ist, wird dabei nicht erwähnt. Aber der Umsatz konnte jährlich um 25% gesteigert werden (ebd.).

So gesehen, werden die Zielländer von ökonomischen und politischen Kräften beherrscht. Pierre Bourdieu spricht dabei von zwei Arten der Gewalt, unter welcher die Beherrschten stehen. Zum einen ist das die physische Gewalt (ökonomische Not, Ressourcenungleichheit, rechtliche oder andere Zwänge), zum anderen die symbolische Gewalt. Darunter sind Klassifikationen oder Bedeutungen allgemein zu verstehen (Rehbein 2016). Die symbolisierte Konstitution der Dritte-Welt-Länder suggeriert Annahmen und Bedeutungen, aber von wem gehen sie aus? Wenn ein Wirtschaftsakteur wie Unilever „einkommensschwache“ Länder als Exportziele manifestiert, in deren Markt eingreift, so wird symbolische Gewalt nicht nur ausgeübt, vielmehr werden auch die einhergehenden Bedeutungen oder Vorannahmen verbreitet.

Was ergibt sich daraus?

Betrachtet man noch einmal die Grenze als Tür, so werden einige Parallelen klar. Türen dienen dazu, etwas ein- bzw. auszuschließen. Türen oder Grenzen beschränken meist ein Gebiet, etwa zur Ressourcensicherung als Verhalten zur Ressourcenknappheit (Hengartner, Moser 2006). Ressourcen zu sichern für die nachkommende Generation wird auch in der Nachhaltigkeitsdebatte stark thematisiert. Türen schließen zudem Räume ab, in welche auch gewaltsam eingedrungen werden kann, sei es – im Sinne von Bourdieu – mit physischer oder symbolischer Gewalt (Rehbein 2016).

Wichtig dabei: Nur bestimmte Akteur_innen haben die Möglichkeit oder die Macht, eine Türe zu öffnen oder zu schließen, sie offen stehen zu lassen oder nur in nützlichen Situationen zu bedienen. Anderen wiederum ist grundsätzlich diese Entscheidungsmacht nicht gegeben. Und wieder Andere werden fremdbestimmt, d.h. ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen bestimmt über das Vorgehen mit der Tür. Viele Menschen tragen eine Verantwortung mit sich, die ihnen vielleicht gar nicht bewusst ist. Auch dann, wenn Fremdbestimmung und Beherrschung unüberwindlich zu sein scheinen, indem sie eine Öffnung verhindern und eine Schließung erzwingen mögen.

Sind jedoch bestimmte gedankliche Türen im Alltag bewusst, so lassen sich einige Gegebenheiten hinterfragen, ja Grenzen überschreiten. Seien es Komfortgrenzen, räumliche, rein symbolische oder gedachte Grenzen. Hinterfragung und Reflexion von Grenzen kann zu deren Verschiebung, Auflösung, aber auch zu deren Festschreibung führen. Dies zu erlangen, liegt im ständigen Zwischenspiel von einer erfahrenden Welt und jener Welt, die eventuell auch möglich sein könnte.

Quellen

Bornschier, Volker (2002): Weltgesellschaft. Grundlegende soziale Wandlungen. 1. Aufl. Zürich: LVB.

Gassmann, Oliver; Frankenberger, Karolin; Csik, Michaela. 2016. Geschäftsmodelle entwickeln: 55 innovative Konzepte mit dem St. Galler Business Model Navigator. München: Carl Hanser Verlag GmbH & Company KG.

Hengartner, Thomas; Moser, Johannes. 2007. Grenzen & Differenzen. Leipziger Universitätsverlag.

Kolland, Franz; Dannecker, Petra; Gächter, August; Suter, Christian (Hg.). 2010. Soziologie der globalen Gesellschaft. Eine Einführung. 1. Aufl. Wien: Mandelbaum-Verl.

Mayer, Tilman (Hg.). 2011. Globalisierung im Fokus von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Eine Bestandsaufnahme. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Randeria, Shalini (Hg.); Eckert, Andreas. 2009. Vom Imperialismus zum Empire? Globalisierung aus nicht-westlicher Sicht: Postkoloniale Perspektiven. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verl.

Rehbein, Boike. 2016. Die Soziologie Pierre Bourdieus. 3. Aufl. Konstanz/München: UVK Verlagsgesellschaft mbH.

Sombetzki, Janina. 2014. Verantwortung als Begriff, Fähigkeit, Aufgabe : Eine Drei-Ebenen-Analyse. Wiesbaden : Springer Fachmedien Wiesbaden.

Tremmel, Jörg. 2003b. Generationengerechtigkeit – Versuch einer Definition. In: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hg.): Handbuch Generationengerechtigkeit. 2. überarbeitete Auflage. München. S. 27-80

Internetquellen

EUFIC, The European Food Information Council. 2001. The Origin of Tomatoes: http://www.eufic.org/en/food-today/article/the-origins-of-tomatoes (zuletzt aufgerufen am 28.03.2017)

Planet Wissen: https://www.youtube.com/watch?v=dZ-mFe4eXoM (zuletzt aufgerufen am 28.03.2017)

Thomé, Stefan. Mitteldeutsche Zeitung: Luther-Tomate aus Wittenberg. Eine Idee von 1975 wird zum Verlaufsschlager (02.10.2015) http://www.mz-web.de/mitteldeutschland/luther-tomate-aus-wittenberg-eine-idee-von-1975-wird-zum-verkaufsschlager-22488936 (zuletzt aufgerufen am 10.02.2017)

Michaela Rotsch

Bildende Künstlerin, transdisziplinäre und -kulturelle Forschung mit arabesken Organisationsstrukturen und syntopischen Werkstrukturen.

michaelarotsch.com

* Der Prototyp der Glaskuben stammt aus der künstlerischen Werkstruktur SYNTOPIAN VAGABOND, die hier mit dem transkulturellen Projektansatz von GLASPALÄSTE durch die gemeinsame Rahmenstruktur der Glaskuben verbunden wird. Dadurch wird die Grenze zwischen Bildender Kunst und anderen kulturellen Bereichen ausgelotet.

syntopianvagabond.net

Michaela Rotsch

Fine artist, transdisciplinary and transcultural research with arabesque organisational structures and syntopic work structures.

michaelarotsch.com

* The prototype of the glass cubes comes from the artistic work structure SYNTOPIAN VAGABOND, which is linked here to the transcultural approach of GLASPALÄSTE through the common structure of the glass cubes. Thus the boundary between contemporary art and other cultural areas is explored.

syntopianvagabond.net

Irmtraud Voglmayr

Soziologin und Medienwissenschaftlerin, Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Stadt- und Raumforschung, Medien, Gender und Klasse.

Irmtraud Voglmayr

Sociologist and media theorist, focussing on research and teaching: city and urban planning, media, gender and class.

Juliane Zellner

Juliane Zellner studierte Theaterwissenschaft (M.A.) in München, Urban Studies (MSc.) in London und promoviert derzeit an der Hafencity Universität im Fachbereich Kultur der Metropolen.

Juliane Zellner

Juliane Zellner holds a degree in Theatre Studies (M.A.) from LMU Munich and a degree in Urban Studies (MSc) from UCL London.

Currently she is a PhD Candidate in the Department of Metropolitan Culture at the HCU Hamburg.